Dr. phil. Wolfgang Baumann
ANTIQUITÄTEN UND KUNSTHANDLUNG
gegr. 1909


"... ein fein geschnitztes älteres Marienbild."
(Hugo Graf von Walderdorff)

Unbekannte Regensburger Bildschnitzerwerkstatt,
Maria mit Kind
aus der zerstörten Damenstiftskirche Obermünster,
Regensburg 2. Hälfte 15. Jh.
- die Wiederentdeckung einer verloren geglaubten Holzmadonna der Regensburger Gotik

Lindenholz stark ausgehöhlt, Fassung 2. Hälfte 19. Jh., rechte Hand der Maria und angesetzte Arme des Christkindes alte Ergänzungen, Zepter und Weltkugel vom Drechsler Ettl gefertigt, vier Kreuzblumenspitzen der Krone rekonstruiert; untere linke Partie wohl nach 1945 keilförmig erneuert; Höhe 120 cm; Preis auf Anfrage

Maria steht mit der linken Fußspitze auf der Mondsichel und hält das Christuskind auf ihrem linken Arm. Sie trägt ein rotes Kleid und darüber einen schweren faltenreich gelegten Goldmantel mit blauem Futter. Das von der rechten Gesichtsseite herabfallende und über die Brust geführte Ende des Schleiers läuft auf das sitzende Christkind zu. Der Marienschleier war zuletzt grün gefasst und wurde freigelegt, so daß er nun wieder weiß ist.
Die gereinigte Vergoldung des Mantels stammt aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und zeichnet sich durch einen geschickten Wechsel von Matt- und Glanzpartien aus. Die Säume sind mit einem Rankenornament graviert und glänzend poliert. Die Faltenstege sind ebenfalls glänzend poliert, während die Tiefen matt vergoldet sind.
Die verlorenen kreuzförmigen Spitzen der Marienkrone wurden nach einem Originalmodell nachgeschnitzt. Die aufgefundenen keilförmigen Einsteckschlitze am Kronreif beweisen, dass ursprünglich solche hohen Kronenspitzen vorhanden waren.

Die Madonna stammt aus dem "kaiserlichen, gefürsteten, freyweltlichen adelichen Fräuleinstift" Obermünster in Regensburg. Die 1010 bzw. 1024 vollendete ottonische Basilika wurde am 13. März 1945 13.03 Uhr durch sieben Sprengbomben schwer beschädigt und nicht wieder aufgebaut. Wunderbarer Weise hat die Holzstatue überlebt. Seit 1626 stand sie als Bekrönung auf dem Schalldekel der frühbarocken Kanzel. Der verdiente Regensburger Historiker Hugo Graf von Walderdorff erkannte 1896 wohl als einer der Ersten die Bedeutung der spätgotischen Skulptur: "Auf dem Deckel der Kanzel steht ein fein geschnitztes älteres Marienbild." Felix Mader schlug 1933 die Datierung "um 1470" vor. In der "kunststatistischen Übersicht" am Ende seines 3. Regensburg-Bandes der unübertroffenen Reihe der Kunstdenkmäler von Bayern führt Mader zur Holzplastik des 15. Jahrhunderts unter auffallend wenigen Objekten auch unsere Madonna auf und hält die Datierung hier allgemeiner: "Ende des Jahrhunderts Marienfigur auf der Kanzel in Obermünster". Tatsächlich ist der Zeitstil der kantig gebrochenen Falten, die nahezu plane Dreiecke ausbilden, bis um 1500 in der Regensburger Reliefplastik der in Stein ausgeführten Grabmalskunst zu beobachten.

Unter den im Umfeld Regensburgs erhaltenen spätgotischen Madonnen ist bisher am besten vergleichbar die Maria mit Kind von Sittelsdorf (ca. 40 km südlich von Regensburg, heute Pfarrei Sandsbach), einer Filialkirche von Semerskirchen, ehemals zum Augustinerchorherrenstift Rohr gehörig. Die Skulptur ist in der Höhe mit 1,13 cm identisch groß (siehe Abb. rechts oben). Die Madonna muß aus derselben Regensburger Werkstatt wie unsere Madonna stammen.

Der Meister der Sittelsdorfer Madonna dürfte auch die beiden ehemaligen Schreinheiligen Katharina und Barbara in der zum Damenstift Niedermünster gehörigen Wallfahrtskirche Niederleierndorf geschaffen haben.

Die spätgotische Rosenkranz-Madonna in der Pfarrkirche Tegernheim, die bis 1803 dem Reichsstift Obermünster inkorporiert war, ist die etwas jüngere Schwester unserer Madonna, die man sich auch als eine Rosenkranzmaria vorstellen könnte (Die Kunstdenkmäler von Bayern, Bezirksamt Stadtamhof, München 1914, Abb. 189). Die Tegernheimerin gehört somit auch der Regensburger Gotik an und ist im Typus und Qualität verwandt mit der Madonna von Obermünster. Der Mond zu ihren Füßen ist ja durch die Bombadierung verloren gegangen.

1462 fanden in der Stiftskirche größere Renovierungsarbeiten statt, im Zuge derer die Äbtissin wohl einen Flügelaltar mit unserer Madonna im Zentrum fertigen ließ. Als Auftraggeberinnen kommen zwei Äbtissinnen in Frage. Von 1456-1479 regierte Kunigunde von Eglofstein. Ihre Nachfolgerin von 1479-1505 war Sibylla von Paulsdorf aus einer in Regensburg angesehene Familie, die ihr Erbbegräbnis in der Paulsdorferkapelle im Minoritenkloster Regensburg hatte.

Unsere rückseitig ausgehölte Marienfigur war eine Schreinfigur, die wohl im Zentrum eines spätgotischen Flügelaltares stand. Einschließlich Mensa dürfte der Altar mit Gesprenge eine Höhe von über 6 Metern erreicht haben, so dass man vom ehemaligen Hochaltar im alten ottonischen Ostchor der Kirche, die Maria Himmelfahrt als Patrozinium hatte, sprechen kann. Die Marienfigur hielt man jedenfalls 1626/28 für so wichtig, dass man sie bei der Errichtung des neuen Hochaltares 1628 nicht aus der Kirche verbannen wollte. Sie kam pietätvoll als Bekrönung auf den Schalldeckel der zwei Jahre zuvor geschaffenen frühbarocken Kanzel.

Dass die Maria von einem Regensburger Bildhauer geschnitzt worden ist, beweisen stilistisch und ikonographisch vergleichbare Madonnen in der Oberpfalz und dem Raum Regensburg:

Die einzige datierte vollplastische Holzbildhauerarbeit Regensburgs der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts ist uns indirekt erhalten. Die 1479 datierte, silberne Kleinplastik der Heiligen Katharina ist das Werk eines Regensburger Goldschmiedes - gestempelt mit dem Beschauzeichen der Stadt Regensburg -, der üblicher Weise nach dem Holzmodell eines Bildhauers die rundplastisch ausgearbeitete Reliquienstatuette getrieben und gegossen hat. Ihr Faltenwurf mit dreieckig gebrochenen, planen Staufaltenflächen ist stilistisch identisch mit der Obermünster-Madonna.(Paul Mai (Hg.), Kostbarkeiten aus kirchlichen Schatzkammern. Goldschmiedekunst im Bistum Regensburg, Regensburg 1979, Kat. Nr.110 (Achim Hubel), Abb. 215.)

In Regensburg wird im 15. Jahrhundert zwischen Bildschnitzer und Bildhauer unterschieden. Im Steuersecret von 1487 werden drei Bildschnitzer und ein Bildhauer genannt: "Connrad Pildschniczer" in der Wahlenwacht bezahlte 48 Pfd. Pf. und "Cristoff pildschniczer" in der Schererwacht 60 Pfund. "Vrbann pildschniczer" in der Wildwercherwacht musste die größte Summe von 264 Pfund Steuern bezahlen. Ein "Vrban pildhauer" ebenfalls in der Wildwercherwacht wurde mit nur 55 Pfd. Steuern belastet. Die Bildschnitzer Konrad und Christoff kamen von auswärts nach Regensburg und sind auch mit ihren Familiennamen anlässlich der Erlangung des Bürgerrechtes überliefert: Der "pildsnitzzer" Conrad Zeittentaler (Zeittntaler) hatte am 20. März 1473 das Bürgerrecht und der Bildschnitzer Christoph Ternhofer 1477 das Bürgerrecht erhalten. Ein "pildhawer gesell" Hans Clausreicius aus Koblenz erlangte am 29. April 1490 das Bürgerrecht in Regensburg:
Regensburger Bürgerbücher Bd. 2, fol.19v.:
179. 1490 April 29
"Jtem feria Va ante Philippi et Jacobj anno 90 ist burger worden Hanns Clausreicius von Kobelencz, pildhawer gesell."

Der erfolgreiche Bildschnitzer Urban war vielleicht ein gebürtiger Regensburger, der die führende Bildschnitzerwerkstatt führte. Das Problem ist, dass keinem der Bildschnitzer bzw. Bildhauernamen erhaltene Werke in Holz bzw. Stein derzeit zugeordnet werden können. Von dem späteren Regensburger Bildschnitzer Michael Loy wissen wir nur, dass er zusammen mit dem Regensburger Dombaumeister Wolfgang Roritzer im Mai 1514 hingerichtet worden ist.

Der Bildhauergeselle Hans Clausreicius aus Koblenz käme als Schöpfer unserer Madonna durchaus in Frage, wäre er damals als "Bildschnitzer" definiert worden. So darf man ihm wohl eine Holzskulptur nicht zuschreiben.

Eine verblüffend ikonographisch identische Madonna im Mittelrhein-Museum-Koblenz (Abb. links) belegt eine Wurzel des Madonnentypes von Obermünster mit dem zum Christkind herabgeführten Schleier Mariens im mittelrheinischen Raum. Weitere Forschungen können hier sicher Licht in die Geschichte der bisher spärlich erforschten Regensburger Holzskulptur der Spätgotik bringen, die im Schatten der Ulmer und Landshuter Plastik steht.

Die Bedeutung der Madonna liegt in ihrer lückenlosen Biographie. Sie ist keine stilistische Hypothese sondern ein beweiskräftiges Kunstdenkmal für die Regensburger Kunstgeschichte zu einer Gattung, von der weniger als 1 Prozent des ehemaligen Bestandes erhalten ist. Die Wiederentdeckung ist ein Glücksfall für Regensburg.

Historische Photographie (siehe rechts), Kanzel, Obermünster, Regensburg Zustand vor 1933

Provenienz: in den 1950er Jahren im Besitz des Stadtamhofer Metalldrehers Max Ettl.
Etliche Holzskulpturen aus Obermünster haben die Sprengkraft der Bomben überstanden. So befindet sich zum Beispiel die frühbarocke Marienfigur des Hochaltares mit den sie umkreisenden Rokokoputten in der Stadtpfarrkirche St. Josef in Dingolfing. Vom Kreuzaltar ist die Mater dolorosa und der Kruzifixus, letzteres ein brillantes Werk von Christian Jorhan dem Älteren (Forschungen Otto Schmidt, Landshut), im ehemaligen bischöflichen Knabenseminar in Straubing erhalten. Obermünster hatte wichtige Besitzungen im Betätigungsfeld von Jorhan mit Kirchenausstattungen von Vater und Sohn Jorhan, so daß man den Landshuter Künstler auch für die Regensburger Stiftskirche heranzog. Das Reichsstift legte Wert auf hohe künstlerische Qualität und beauftragte bedeutende Künstler.

Weitere historische Innenaufnahmen von August 1912 abgebildet in Helmut HALTER und Johann SCHMUCK, Alt Regensburg, Bilder einer Stadt, S. 107

Historische Photographie vom Innenraum der Niedermünsterkirche, Blick nach Westen mit aufwändigen Schmuck zum Marienmonat Mai, Abb. in OBERMÜNSTER REGENSBURG, von den Anfängen bis heute (Bischöfliches Zentralarchiv und Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, Kataloge und Schriften Bd. 24, hg. von Paul Mai), Regensburg 2008, S. 64.

Der 1506 datierte spätgotische Altar in dem ehemaligen Wallfahrtskirchlein Unserer lieben Frau in Kneiting westlich bei Regensburg zeigt eine gegenüber der Madonna von Obermünster fortgeschrittenere Stilstufe. Der 1959/60 modern gefasste Altar (Foto vor der "Restaurierung") zählt zu den Hauptwerken der "angeblich" Regensburger Schnitzkunst um 1500. Kneiting gehörte zum Schottenkloster St. Jakob in Regensburg, das hier Weinberge und die Kapelle besaß - "cum vineis suis et capella sua" (1202). In einem ähnlichen Zusammenhang könnte unsere Madonna in einem Flügelaltar gestanden haben.


In der Ruine von Obermünster geht der Blick von Westen nach Südosten. Im Bereich vor der Fassade der Bischöflichen Zentralbibliothek stand die Kanzel mit der Madonna bis zum 13. März 1945.

LITERATUR:
zur Plastik der Oberpfalz allgemein: Karl GRÖBER, Die Plastik in der Oberpfalz (=Alte Kunst in Bayern, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege), Augsburg 1924
zur Plastik der Spätgotik in Regensburg: Volker LIEDKE, Regensburger Bildschnitzer und Schnitzaltäre der Spätgotik, in: ARS BAVARICA, hg. von Volker Liedke, Bd. 8, München 1977, S. 9-28.
Die Madonna wird in folgender Literatur genannt: Hugo Graf von WALDERDORFF, Regensburg in seiner Vergangenheit und Gegenwart, 4. Aufl., Regensburg, New York und Cincinnati 1896, S. 289; Die KUNSTDENKMÄLER VON BAYERN, OBERPFALZ, Bd. XXII, Stadt Regensburg, München 1933, Bd. 2, S. 264, Abb. 200 und Bd. III, S. 266.

Die Madonna mit später bekleidetem Christkind (Höhe 100 cm) im Regensburger Dominikanerinnenkloster Hl. Kreuz (Abb. rechts) gehört dem gleichen Typus an wie die Obermünster-Madonna. Die blechartig gekanteten Faltenflächen – meist dreieckförmige Flächen ausbildend – passen stilistisch zu unserer Madonna. Die Lokalisierung der Madonna Hl. Kreuz nach Regensburg ist sehr wahrscheinlich, da das Kloster nie säkularisiert worden ist.

Auch die Madonna im Refektorium der Benediktinerabtei Weltenburg ist im Vergleich heranzuziehen.

Zurück