Dr. phil. Wolfgang Baumann
ANTIQUITÄTEN UND KUNSTHANDLUNG
gegr. 1909


 

Seltener gotischer Schwenkarmkruzifix mit angewinkelten Beinen,
geschaffen von einem in Nürnberg ausgebildeten Bildhauer um 1500

Zirbelkiefer, minimale Reste einer Fassung in den Haarsträhnen, unter den Achseln und an der Rückseite. Korpusmaße: Höhe 120 cm, Breite 118 cm. Preis auf Anfrage

Der Christuskörper ist aus einem Lindenholzstück geschnitzt. Die Arme sind mit Scharnieren an den Schultern befestigt. Sie konnten ursprünglich zum Körper geschwenkt werden. An der Rückseite befindet sich eine handgeschmiedete Eisenöse (wohl original) zum Aufhängen des Kruzifixes. Das Kruzifix konnte so schnell vom Kreuz abgehängt und als Grablegungschristus verwendet werden.

Der Bildhauer hatte die Marotte, die Fuß- und Fingernägel nicht zu schnitzen, sondern deren Aufmalungen dem Fassmaler zu überlassen. Vielleicht war er auch selber Fassmaler.

Der Kruzifix gehört zum Typus mit angewinkelten Beinen (im Gegensatz zum Typus mit den durchgestreckten Beinen). Sein stark vollrund gearbeitetes Haupt ist zur rechten Schulter geneigt. Das Haupthaar fällt zur Rechten in einem großen Haarbündel herab. Die Haarsträhnen sind fein eingezeichnet stilisiert. Der Mund ist weit geöffnet. Nach der Forschungsmeinung hat Multscher den Typus des Kruzifixes mit angewinkelten Beinen in Süddeutschland favorisiert.

Das Zentrum der süddeutschen Holzskulptur ab der Mitte des 15. Jahrhunderts war Ulm. Hier beginnt die Schiffahrtsstraße Donau, die mit den "Ulmer Schachteln" den Transport ganzer Altäre in großen Entfernungen leicht ermöglichte. Hier hatten Hans Multscher (um 1400-1467) und seine Nachfolger bis nach Südtirol gewirkt.

Das Modell zu einem Grabstein für Herzog Ludwig den Gebarteten von Bayern-Ingolstadt zu Lebzeiten 1435 geschaffen (Bayerisches Nationalmuseum) ist das einzige sichere Werk von Mutscher, das einen Kruzifixus von seiner Hand überliefert. Die angewinkelten Beine und das ausdruckstarke Haupt Christi kommen monumental zur Geltung, trotz der Miniaturausführung.

Der Schmerzensmann mit freigelegter Originalfassung im Hessischen Landesmuseum Kassel gilt als ein authentisches Spätwerk von Hans Multscher um 1460. Das Lendentuch mit dem zentralen Überschlag, der das Futter des Tuches sichtbar macht, ist auch bei unseren Kruzifix vergleichbar gestaltet. Die Anatomie des Brustkörpers ist qualitativ Multscher nahestehend, ebenso die Stilisierung der Haare und der Dornenkrone. In der Multschernachfolge sieht die Kunstgeschichte den Südtiroler Hans Klocker, der neben Michael Pacher die bedeutendste Werkstatt der tiroler Spätgotik führte.

Von 1511-1515 wirkte in Bozen als Chorregent der Schulmeister Benedikt Debs aus Ingolstadt. Er ging in die Geschichte als bedeutender Sammler von mittelalterlichen geistlichen Spielen, zu denen auch Grablegungsspiele gehören, ein. 1514 spielte Debs die Rolle des Salvators bei einer siebentägigen Aufführung der Bozener Passion.

Kruzifixe mit schwenkbaren Armen entstanden nach Taubert für Benediktinerklöster in Zusammenhang mit dem Brauch, am Karfreitag den Korpus Christi vom Kreuz zu nehmen und in das Grab zu legen. Das Ehepaar Taubert hat 40 Kreuze dieser Art nachgewiesen, davon sieben in Florenz. Das Benediktinerstift Seitenstetten besitzt einen Klappchristus um 1420 mit einem späteren Kopf von 1620.

Allein die Verwendung von Zirbelkieferholz reicht nicht aus Skulpturen nach Tirol zu lokalisieren. Zum Beispiel verwendete um 1490 Erasmus Grasser in München Zirbelkiefer für seinen Kalvarienberg im Bodemuseum Berlin.

Der Kruzifix fällt durch seine Monumentalität und starke Plastizität auf. Es ist ein Werk von höchster Qualität aus dem engsten Umfeld von Hans Multscher bzw. Hans Klocker und ein seltenes Zeugnis für die geistlichen Grablegungsspiele der Karfreitagsliturgie.

Lit.: Gesine und Johannes TAUBERT, Mittelalterliche Kruzifixe mit schwenkbaren Armen. Ein Beitrag zur Verwendung von Bildwerken in der Liturgie, in: ZS des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft XXIII, Berlin 1969, S. 79-121; AK KREUZ UND KRUZIFIX. Zeichen und Bild, 2. Aufl., Freising 2005, Kat. Nr. VI.10; Arbeitskreis für Inventarisation und Pflege des kirchlichen Kunstgutes (Hg.), Lexikon für kirchliches Kunstgut, Regensburg 2010, s.v. Schwenkarmkruzifix, S. 213f.

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